Gaby Wentland ist im weißen Kleid im Rotlicht unterwegs. 2011 gründete die Pastorenfrau und vierfache Mutter im norddeutschen Hamburg den Verein „Mission Freedom“, der sich gegen Zwangsprostitution einsetzt. Weltweit erhebt sie ihre Stimme gegen den Menschenhandel.
Frau Wentland, 2011 gründeten Sie den Verein »Mission Freedom«, der sich gegen Zwangsprostitution einsetzt. Wie kam es dazu?
Ich bin Hamburgerin und führte alle meine auswärtigen Freunde ganz selbstverständlich über die berühmte Reeperbahn. Bis eine australische Freundin, die sich bereits gegen Zwangsprostitution einsetzte, mich darauf aufmerksam machte, dass wir in Hamburg ein großes Problem mit Menschenhandel haben. Aber ich dachte: Wir sind in Deutschland, in einem sicheren Raum. Das kann es hier nicht geben! Ich sprach mit dem Polizeipräsidenten und erfuhr: Wir haben dieses Problem tatsächlich, aber die Polizei weiß nicht, wie groß es ist, weil sie keine genauen Zahlen und Fakten dazu hat. Als ich aus diesem Gespräch ging, liefen mir die Tränen herunter.
Warum hat Sie das Thema so bewegt?
Mich ließ der Gedanke nicht mehr los: Diese Frauen in Zwangsprostitution sind Töchter! Sie sind zwar nicht meine eigenen Töchter. Aber sie sind Töchter von Müttern, die vielleicht keine Möglichkeit haben, etwas zu unternehmen. Deshalb reiste ich durch Europa und sah mir die Hilfsorganisationen in diesem Bereich an. Dabei lernte ich die Leiterin der katholischen Organisation »Solwodi«, Schwester Dr. Lea Ackermann, kennen. Sie ermutigte mich sehr: »Diese Frauen brauchen jemanden, der ihnen eine Stimme gibt. Geben Sie diesen Frauen eine Stimme!« Das war für mich ein wichtiger Anstoß.
Was fühlen Sie, wenn Sie an Zwangsprostitution denken?
Entsetzen. Weil ich die Leidenswege dieser Frauen bereits seit elf Jahren höre. Über 100 Frauen haben wir bisher aus der Zwangsprostitution begleitet. Dabei fühle ich auch immer wieder Fassungslosigkeit: Welcher Mann tut das einer Frau an?
Wie geraten Frauen in diese Lage hinein?
Sie werden mit dem Traum von einem besseren Leben nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz gelockt. Die Menschenhändler erzählen ihnen, dass sie dort Arbeit finden und sehr viel Geld verdienen können. Die Frauen hoffen: Endlich kann ich meine Familie in Ghana, Bulgarien oder in einem anderen Land ernähren! Spätestens am Ende der Reise schnappt die Falle zu. Die Menschenhändler sagen: »Du hast jetzt Schulden bei mir für die Reisekosten, den Sprachkurs und so weiter. Die kannst du nur abarbeiten, wenn du dich prostituierst.« Die Frauen müssen einen Schuldschein unterschreiben, meist nachdem sie brutal vergewaltigt wurden, um ihren Willen zu brechen. Dann werden sie durch Gewalt, Drogen, Alkohol und zu wenig Essen tagtäglich in der Prostitution gehalten.
Sie klären auch über die »Loverboy Methode« auf. Was ist das?
Meist minderjährigen Mädchen wird die große Liebe vorgespielt, sie werden psychisch abhängig und gefügig gemacht, bis sie bereit sind, für »ihren Mann« anschaffen zu gehen. Das passiert auch Mädchen hierzulande.
Wie bekommt Mission Freedom Kontakt zu den Frauen im Milieu?
Wir arbeiten mit Streetworkerinnen zusammen, die zu zweit zu den Frauen gehen und fragen, ob sie ihnen etwas besorgen können, was sie dringend brauchen. Denn die Frauen können meist nicht einkaufen gehen. Außerdem initiieren wir mit befreundeten Organisationen Streetcafés im Milieu, wo die Frauen einfach hinkommen können.
Wie reagieren die Frauen?
Häufig haben sie bereits auf uns gewartet, ohne von uns zu wissen. Denn sie hoffen ja darauf, dass jemand kommt und ihnen hilft. Diese Hoffnung stirbt zuletzt. Wir stellen uns als Christen vor, die kommen, um zu fragen, wie es ihnen geht. Dann sind sie meist erstaunt. Wenn mit der Zeit Vertrauen wächst, machen wir ihnen auch das Angebot: Wir können dir helfen auszusteigen, wenn du willst.
Wie geht es dann weiter?
Mein starker Wunsch ist, die Frauen an einem sicheren Ort in ein neues Leben zu begleiten. Deshalb haben wir gleich zum Start von Mission Freedom unsere beiden Schutzhäuser eröffnet. Das sind Wohngemeinschaften für jeweils acht Frauen. Jede hat dort ein Einzelzimmer. Am großen Tisch in der Küche trifft man sich. Sozialarbeiterinnen mit Trauma therapeutischer Ausbildung begleiten die Frauen rund um die Uhr im Haus. Behutsam miteinander zu reden, ist dabei elementar. Denn die Angst ist bei den Frauen ja immer noch da.
Wie begleitet Mission Freedom die Frauen in den Schutzhäusern in Hamburg und Frankfurt?
Es gibt erstmal eine Zeit des Ankommens. Sie können ausschlafen, weinen, einfach sein. Dann fangen die Frauen an zu erzählen und wir hören nur zu. Wenn sie psychologische und medizinische Hilfe wollen, dann bekommen sie diese. Wir haben eine Ärztin im Team, die die Frauen in ihren Zimmern besucht und untersucht, denn oft sind sie sehr verletzt. Nach einer gewissen Zeit beginnt eine Gesprächsphase, in der wir die Frauen begleiten, über ihre Zukunft nachzudenken: Möchtest du zu deiner Familie zurück? Hast du Kinder? Wer könnte gefährdet sein? Möchtest du eine Ausbildung machen? Wir helfen den Frauen Deutsch zu lernen, wenn sie bleiben wollen. Wir bieten ihnen Ausflüge und gemeinsame Unternehmungen an.
Was braucht eine Ex-Zwangsprostituierte, damit sie ein neues Leben beginnen kann?
Sie braucht viel Unterstützung für das normale Leben, das sie nicht gelernt hat: Wie miete ich eine Wohnung? Wie fülle ich Behördenunterlagen aus? Wie kaufe ich Kleidung? Für die Frauen ist es ein Highlight, eigene Kleidung zu kaufen. Vorher hat ihnen immer der Zuhälter die Klamotten hingeworfen.
Wie lange lebt eine Frau im Schutzhaus, bis sie auf eigenen Beinen stehen kann?
Nach einem Jahr sind die meisten Frauen so stabil, dass sie ausziehen können. Aber Frauen, die aus rituellem Missbrauch kommen, also seit ihrer Kindheit in der pädophilen Szene misshandelt wurden, brauchen bis zu drei Jahre. Da sie meist unter Persönlichkeitsspaltungen leiden, ist ihre Betreuung sehr intensiv.
Sind die Frauen im Schutzhaus vor den Tätern sicher?
Eine Frau aus Hamburg nehmen wir nicht in einem Hamburger Schutzhaus auf, sondern bringen sie an einen sicheren Ort in einer anderen Stadt oder einem anderen Land. Wir arbeiten mit rund 200 Organisationen in ganz Europa zusammen, und im Netzwerk »Gemeinsam gegen Menschenhandel«, das ich mitgegründet habe. Wir setzen uns auch weltweit für Aufklärung ein und machen Lobbyarbeit in Berlin für die Einführung des Schwedischen Modells.
Was ist das Schwedische Modell? Lässt sich Zwangsprostitution dadurch eindämmen?
Einfach formuliert: In Schweden wurde ein Sexkaufverbot eingeführt. Nun werden nicht mehr die Prostituierten kriminalisiert, sondern die Käufer von sexuellen Dienstleistungen. Solch ein Gesetz kann Zwangsprostitution zwar nicht verhindern, aber verringern und die Sicht auf Prostitution verändern – auch bei Freiern. Dass dies gelingt, kann man in Schweden sehen. Deshalb haben inzwischen weitere Länder ein Sexkaufverbot eingeführt, zum Beispiel Israel, Kanada, Norwegen und Frankreich, aber Deutschland noch nicht.
Mission Freedom ist »mit großem Herz, aber wenig Ahnung« gestartet. Was haben Sie dazugelernt?
Tonnenweise! Wir haben das Rotlicht kennengelernt und wissen, was in der Szene los ist. Sie ist noch brutaler und offener geworden. Vieles spielt sich im Internet ab, auch die Anwerbung von Frauen geschieht teilweise dort. Heute werden die Frauen von ihren Zuhältern sogar über Chips in ihrer Kleidung kontrolliert. Dadurch wissen die Täter auch, wo wir sind. Da brauchen wir Gottes Bewahrung.
Was motiviert Sie dazu trotzdem weiterzumachen?
Mir haben viele Frauen gesagt: »Ich habe gebetet, damit jemand kommt und mich rettet!« Dieser Satz hat mein Herz zutiefst berührt. Gott möchte, dass wir diese Frauen buchstäblich aus großer Gefahr retten. Das motiviert mich immer wieder.
Was sehen Sie, wenn Sie auf der Reeperbahn in Hamburg unterwegs sind?
Ich sehe Frauen und auch Männer, die ich kenne. Denn wir freunden uns mit dem Milieu an, damit wir bekannt sind. Ich sehe auch Hoffnung für das Milieu. Aber die Frauen brauchen mehr Menschen, die für sie aufstehen, regelmäßig zu ihnen gehen und ihnen zuhören. Ganz ohne Bedingung.
Was ist Ihre Hoffnung?
Ich habe die Hoffnung, dass wir weiteren 100 Frauen aus der Zwangsprostitution helfen können. Und dass manche von ihnen zu Multiplikatorinnen werden. Es ist die schönste Herausforderung meines Lebens, diesen Frauen die Hand zu reichen. Es berührt mich zutiefst, wenn Aussteigerinnen sagen: »Mission Freedom ist mein Zuhause. Darf ich mal wiederkommen und schauen, wie es den anderen Frauen geht?«
Erschienen in: gomagazin, Ausgabe 24 in 2022
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