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Die hätte Willi gefallen

Anne Albers

Als Beate ihn fand, lag Willi mit der Stirn gegen das Lenkrad gelehnt. Seine schmale Goldkette, auf der nie ein Name eingraviert worden war, baumelte über seinen Oberschenkel von seinem Hals herunter.


Als Beate ihn fand, lag Willi mit der Stirn gegen das Lenkrad gelehnt. Seine schmale Goldkette mit der Plakette, auf der nie ein Name eingraviert worden war, baumelte über seinen Oberschenkeln von seinem Hals herunter. Seine Arme hingen herab wie die einer erschlafften Marionette. Die Spannung war aus Willi entwichen, die seinen Bizeps stets durch die Hemden gewölbt hatte, auch mit seinen knapp siebzig Jahren.


Willi hatte seinen weißen Mercedes wohl auf der Auffahrt vor seinem Haus gestartet, um auf die Dorfstraße runterzufahren, als sein Herz nicht mehr wollte. Der Mercedes rollte langsam eine Schneise durch die Krokusse und Osterglocken in Beates Vorgarten und blieb vor ihrem Küchenfenster stehen. Die Hupe lärmte zu ihr hinein. Beate hätte sich beinahe das Küchenmesser in den Zeigefinger gerammt. Sie zerteilte gerade die Karotten für die Suppe. Beate kniff die Augen zusammen gegen den blauen Mittag vor ihrem Fenster. Die Sonnenstrahlen tanzten auf den silbernen Zierstreifen an Willis Mercedes. Das Auto hatte dieselbe behäbige Anmut wie Willi. Der ist auch in die Jahre gekommen und trotzdem ist der Lack nicht ab, dachte Beate.


Beate schaute auf ihre Hand, die noch immer das Küchenmesser festhielt. Lass los, befahl sie sich. Doch der Moment schien sich zu dehnen und ihre Finger waren gelenklose Tentakeln, die ihr nicht gehorchten. Sie griff mit ihrer freien Hand nach dem Arm und rumste ihn aufs Holzbrett, bis die Tentakeln das Messer fallenließen. Dann rannte sie los, ihre Schlappen klatschten über die Fliesen, über die Dielen im Flur und durch die offene Haustür, durch die sie die Frühlingsluft hereingelassen hatte. Sie lief über den Rasen, zog die Beifahrertür vom Mercedes auf und beugte sich zu Willi hinein. Sie drückte zwei Finger unter dem kantigen Kiefer in seinen Hals und suchte nach dem Pulsieren. So wie sie es immer machte, wenn sie Frühschicht hatte und der aufgeklappte Unterkiefer eines Bewohners ihr zeigte, dass er in der Nacht heimgegangen war. Beate wusste jetzt, dass sie sich nicht mehr beeilen musste. Willi war nicht mehr.


Sie setzte sich neben ihn und presste die flachen Hände auf ihre Ohren. Das dämpfte den Lärm. Willi hupte, das sah sie jetzt. Mit seiner toten Stirn. Das Hupen müsste man weithin im Dorf hören. Wieso kommt denn keiner?


Beate schob eine Hand zwischen das Lenkrad und Willis warme Stirn, die andere platzierte sie unter seinem hängenden Brustkorb. Dann atmete sie aus, richtete Willi mit einem Ruck auf und drückte ihn sanft in den Ledersitz. Dabei schwang seine Goldkette mit zurück und blieb auf der Haut zwischen seinen offenen Hemdknöpfen liegen. Sie sah ihn von der Seite an, seine frische Nassrasur roch nach wohldosiertem Aftershave. Sie strich ihm über seine dichten, grauen Haare. Gerade kam es ihr seltsam vor, dass sie für Willi nie mehr als struppige Zuneigung empfunden hatte. Vielleicht, weil jetzt das Erobernwollen aus ihm entwichen war und der posierende Dorfschnack verstummt war, den er hinter seiner Kneipentheke anschalten konnte wie einen Regionalsender. Alle haben ihm gerne dabei zugesehen. Besonders die Frauen, die nach dem Tod von Magret an seiner Seite immer jünger wurden. Alle anderen Männer hätte Beate dafür verabscheut, aber Willi nicht. Er war zu nett, zu loyal, um eklig zu sein. Er war immer da, auch wenn Beate ihn widerstrebend brauchte bei Dingen, die sie nicht alleine schaffte.


Eine Weile wartete Beate. Darauf, dass jemand kam. Oder Willi aufwachte, sie angrinste wie nach einem seiner Scherze und seinen Mercedes wieder aus ihrem Beet herausfuhr. Aber eine Weile reichte nicht. Deshalb stieg Beate aus dem Mercedes, zog vorher noch die Handbremse an, ging dann ins Haus zu ihrem Wählscheibentelefon, das sie mal auf dem Flohmarkt im Nachbardorf gekauft und auf der Kommode im Flur stationiert hatte. Sie mochte es, im Stehen zu telefonieren, das waren Gespräche im Durchgang, Gespräche, die schnell vorübergingen.


Sie schnarrte die Nummer von Dorfarzt Tönsen in die Wählscheibe.

„Tönsen“, sagte sie, bevor er etwas sagen konnte, „Willi ist nicht mehr. Du musst kommen. Und bring jemanden von der Freiwilligen mit. Oder Prechter mit seinem Leichenwagen. Du wirst Hilfe brauchen.“

„Beate? Bist du das?“

„Ja, Mensch, Tönsen!“

„Was ist denn los?“

„Willi … Willi ist tot. Er sitzt hinter seinem Lenkrad.“

„Ach, du, meine … und wo ist er genau?“

„Sein Weißer steht vor meinem Küchenfenster.“

Tönsen schnaubte durch die Nase. „Ich komme, Beate. Bin gleich da.“


Klack. Der Hörer drückte die Gabel nieder. Beate sah ihre Hand darauf liegen. Ihre Finger, die sie gerade noch in Willis Hals gedrückt hatte. Sie strich sich mit dem Daumen über den Zeigefinger, zerrieb Willis Aftershave zwischen den Kuppen und hielt ihre Nase daran. Dann ging sie wieder Karotten schneiden. Ihr fiel nichts anderes ein, was sie jetzt mit diesen Fingern anfangen konnte. Waschen, ging nicht. Willi war ja keine Schmeißfliege, die sie von ihrem Salamibrot wedelte. Er sollte noch bei ihr bleiben, bei dem, was sie so tat.


Tönsen bremste sein Auto unten vor ihrer Auffahrt. Weißer Saab mit roten Ledersitzen! Er hatte halt in Hamburg studiert… Er stieg aus, guckte zu Beates Küchenfenster hoch und hob kurz die Hand. Gummihandschuh. Hinter ihm kam Prechter langsam herangefahren, Schlafwagen eben. Beate schüttete die Karotten zu den Kartoffeln in die Brühe, rührte und würzte, mochte den beiden nicht dabei zusehen, wie sie den schlaffen Willi aus dem Auto zogen. Schlaffe Körper sehen ausgeliefert aus, würdelos.


Als Tönsen an ihr Küchenfenster klopfte, winkte sie ihn herein. Prechter, der Kleine im großen Schwarzen, wie sie ihn im Dorf nannten, nickte ihr kurz zu und ging dann zu seinem Wagen. Willi kommt jetzt weg, dachte Beate.


Tönsen kam durch die offene Haustür, den Flur entlang zu ihrer Küche, klopfte an den Rahmen. „Hallo, Beate, darf ich kurz?“ und schwenkte seinen Kopf Richtung Badezimmer. „Ja, natürlich“, antwortete sie. Sie nahm zwei Suppenteller aus dem Schrank, stellte sie auf den runden Tisch mit der Blümchendecke, zwei Löffel daneben. Ließ kaltes Wasser in eine Karaffe laufen, während sie zwei Bier aus dem Kühlschrank holte.

Tönsen hatte die Badezimmertür offengelassen, seine Gummihandschuhe hingen über dem Waschbeckenrand wie tote, gerupfte Hühner. Beate sah ihm zu, wie er sich die Hände wusch, dabei den Seifenschaum zwischen die gespreizten Finger schob und kreisend um seine Handgelenke fuhr. Neben ihr plätscherte es, Wasser fiel über den Karaffenrand in die Spüle. Beate starrte den Wasserfall wütend an.


Quietschend zog Tönsen den Stuhl vom Tisch. Mit einem Fausthieb stellte Beate den Wasserhahn ab, hob die Karaffe aus der Spüle und ließ zu, dass Tropfen auf die Fliesen fielen und sich ein feuchter Rand in die Decke sog, als sie die Karaffe auf den Küchentisch abstellte. Tönsen sah Beate an. „Danke dafür“, er zeigte auf den Suppenteller vor ihm und lächelte flüchtig. Beate mochte ihn nicht anschauen. Sie fühlte sich seltsam außer sich und wollte, dass das drinnen blieb. „Schon gut“, antwortete sie, rumpelte den Untersetzer aus der Küchenschublade und stellte den Topf auf den Tisch.


„Was machen wir jetzt?“, fragte Tönsen und schöpfte sich Suppe in den Teller.

Beate setzte sich ihm gegenüber. „Was meinst du?“ und sah den Karotten dabei zu, wie sie hin und her wogten in der Suppe, die Tönsen ihr auffüllte.

„Na, Magret ist schon lange tot. Willi und sie haben keine Kinder. Willi ist … war Einzelkind und Magrets Schwester war doch unverheiratet, oder?“

„Ja, und?“

„Na, Willi hat keine Verwandten. Niemanden, der sich um seine Beerdigung kümmern kann. Und was ist mit seinem Haus und seiner Kneipe? Und dem Dorfpool?“

„Aber er hatte doch diese neue Freundin … Silke?“

„Anna hieß sie. Aber das war doch schon vorbei. Hat Willi dir das nicht erzählt?“

Beate schüttelte den Kopf.

„Ich dachte. Ich meine, er hat dir doch sonst alles erzählt.“

„Willi weiß halt, was mich interessiert und was nicht“, blaffte sie.

„Ist schon gut, Beate.“ Er nahm das Bier, das vor ihrem Teller stand, öffnete es mit dem Löffelgriff und hielt es ihr hin. Beate nahm die Flasche, fühlte sie kühl an ihren Fingern und an ihrem Mund.


„Ich bin keine, die aus der Flasche trinkt“, hatte sie zu Willi an den Abenden in seiner Kneipe immer gesagt, „das ist mir zu nahe an der Alkoholikerin“. Und hatte stur gewartet, bis Willi ihr betont langsam ein Glas zum Pils über die Theke schob, „Bist halt nicht wie die anderen“ zu ihr sagte und seine Augenbrauen mit ihr schäkerten. Das war ein Evergreen zwischen ihnen. Sie mochte seinen warmen Bariton dabei, seine Selbstironie.


„Du kennst dich am besten bei ihm aus“, mischte sich Tönsen ein. „Vielleicht kannst du nachsehen. In seinen Unterlagen. Vielleicht gibt es ein Testament oder eine Vollmacht oder irgendwas, was uns weiterhelfen kann.“

Beate schob die Schneidezähne an den Rand der Bierflasche und setzte sie ab. „Ja, gut. Ich kann, ich mache das.“ Und fühlte sich auf einmal weniger wütend.


Die Schneise in ihrem Beet war am kommenden Tag noch da. Die Osterglocken hat er also auch flachgelegt, dachte Beate und musste lachen. Der hätte Willi gefallen!

Neben ihr plöp, plöp, plöpte der Melitta aus der Kaffeemaschine, draußen vor ihrem Fenster zupfte ein Zaunkönig Moos aus der steinernen Beetumrandung. Sie hatte heute ja frei, sie konnte sich Zeit lassen. Willis Blumen gießen. Okay. Im Haus kurz nach dem Rechten sehen, wenn er im Urlaub war. Auch okay. Aber seine Sachen durchsuchen … das war ihr eigentlich zu intim. Sie tastete nach dem Ersatzschlüssel in ihrer Jeans.


Jetzt gluckste die Maschine. Sie goss den Kaffee in die Thermoskanne. Die hat auch schon bessere Tage gesehen, dachte sie und rieb mit den Fingern über die braunen Ablagerungen auf dem weißen Kannenbauch.


Sie zog die Haustür hinter sich zu, ging die buckligen Steinplatten vor ihrem Haus entlang, über den Rasen, den sie höher stehen ließ als im Dorf üblich, zwischen den dickbäuchigen Rhododendren durch, die ihr Grundstück von Willis trennten. Einen Zaun hatten sie zwischen sich nicht gebraucht. Der Rotklinker neben seiner Tür war schon warm von der Morgensonne, Beate mochte es, den altbackenen Stein anzufassen. Mit ihrem Schwedenhaus hatte er sie immer aufgezogen: „Ein bisschen Pippi Langstrumpf muss sein, ne?“


Tulpen in zu wenig Wasser schauten sie aufrecht von der Flurkommode aus an. Sie ging in die Küche, holte sich einen Becher aus dem Schrank und goss sich Kaffee aus ihrer Thermoskanne ein. Sie trug den randvollen Becher ungelenk vor sich her. Das Wohnzimmer, gradlinig, aufgeräumt wie immer. Rechts die matt verglaste Durchgangstür zur Kneipe, die Willi nachts nach Thekenschluss absperrte. Sie stellte den Becher auf dem Beistelltisch vor dem Sofa ab. Ein Nierentisch ist das, original 60er-Jahre, hörte sie ihn sagen.


Der Schreibtisch, vielleicht sollte sie mit dem Schreibtisch anfangen, der sich vor der Aussicht in den Garten breit machte. Dort schob sie den Drehstuhl zur Seite. Auf seinem schwarzen Leder lag eines von Willis weißen Hemden. Nur kurz abgeworfen, er wird gleich reinschlüpfen und es mit seinen Schwimmerschultern straffziehen. Der Gedanke schlug Beate in den Bauch, sie krümmte sich über der Tischecke. Damit hatte sie nicht gerechnet, sie war doch bloß in Bereitschaft, auf Station, sagte sie sich. Aber die Übelkeit blieb in ihrem Bauch, rausweinen ging nicht. Lieber brechen als weinen, hatte sie sich mal vorgenommen. Sie machte die Terrassentür neben dem Schreibtisch auf, Frischluft. Sie atmete, bis sie wieder geradestehen konnte, ihr Kaffee war sicher schon kalt, aber egal, den konnte sie jetzt eh nicht trinken. Sie zog den Drehstuhl zu sich, nahm Willis Hemd und legte es sich über die Schultern. Dann zog sie die Schubladen auf.


Tönsen erzählte sie es als erstes: Willi wollte Beate sein Haus vermachen. Mit allem, was dazu gehörte. Der Kneipe, dem Dorfpool, den er im Sommer füllte und sauber hielt – den Kindern zuliebe, sagte er immer. Dabei ging er selbst schon vor dem Frühstück schwimmen. Er musste ja nur in Badehose und Flip Flops rüber gehen, der Pool und die schmale Liegewiese waren direkt neben seiner Kneipe. In der Mittagssonne duftete es dort nach Pommes und Limonade, Currywurst und Pils. Und Willi posierte und klönte am Sprungbrett. Die goldene Plakette um seinen Hals warf das Sonnenlicht zurück.

Sein Testament hatte Willi schon zwei Jahre nach Magrets Tod aufgesetzt, das sah Beate an dem Datum der notariellen Beglaubigung, die sie in der Schublade fand. Dabei lag auch ein Brief an sie:

„Liebe Beate, gute Nachbarn zu sein, war mit Dir einfach. Danke für Deine Freundschaft. In den wichtigen Dingen waren wir uns einig. Du bist eben nicht wie die anderen! :-) Ich habe mit diesem Satz nicht ernst gemacht. Das wäre Dir wohl auch nicht recht gewesen. Aber wenn ich darüber nachdenke, wem ich etwas hinterlassen möchte, dann fällst Du mir ein. Ich hoffe, es ist in Ordnung für Dich, wenn meine Sachen jetzt Dir gehören. Klinker an Schwedenholz. Dein Willi“


Beate wunderte sich, dass sie nicht überrascht war. Auch nicht überfahren von diesem Erbe. Es war wie es war. Eine weitere stille Übereinkunft zwischen Willi und ihr.


Eine gelbe Rose hätte nicht gepasst, deshalb warf sie Willi einen Kronkorken ins Grab. Danach gab es Butterkuchen und Erbsensuppe in Willis Kneipe. Beate musste nicht viel machen, bei solchen Ereignissen funktionierte das Dorf wie ein Ameisenhaufen. Und Schnaps war ja für alle da.


Beate blieb nüchtern. Sie nahm Willis Erbe an, aber sie wollte es nicht antreten, wie es manche aus dem Dorf erwarteten. Sie würde weder ihre Wirtin, noch ihre Poolbetreiberin werden. Sie wollte ihr Leben behalten, sogar die Schichtarbeit auf Station mit den Nächten, die ihr inzwischen in die Knochen fuhren.


Tönsen lächelte zwar, aber krampfte seine schönen, geraden Finger ein, als Beate ihm erzählte, dass sie Willis Haus, Kneipe und Pool vermieten werde. Er war von hier und wusste, dass man das eigentlich nicht machte. Die Theke sollte ja im Dorf bleiben. Aber Tönsen schwieg und schluckte den Butterkuchen an Beates Küchentisch runter. Er würde das schon regeln. Er regelte alles, was im Dorf nicht zwischen schwarz und weiß passte.



Xenia stand schlank, gerade und rosa vor Willis Haus. Beate kam vom Einkaufen die Dorfstraße entlang geradelt. Der Wind hatte ihr einiges entgegengesetzt. Sie kam sich krumm und abgekämpft über ihrem Lenker vor, richtete sich schnell auf und versuchte mit einer Hand ihren dunkelbraunen Pony glatt zu streichen, den der Wind bestimmt unansehnlich hochgepustet hatte. Beate hasste es, zu Frauen wie Xenia aufschauen zu müssen, nur weil sie aristokratischer gebaut waren.


Beate verlangsamte ihr Fahrrad, sprang schwungvoll ab, immerhin das gelang ihr, und schob es ihre Auffahrt hoch. Sie sah Xenia an, hob leicht die Hand und rief rüber „Ich bin gleich bei Ihnen“. Auf ihrer Flurkommode lag der Ersatzschlüssel von Willi, den holte sie schnell. Die Stoffbeutel mit den Einkäufen ließ sie im Flur stehen, die Besichtigung mit dieser Xenia würde ja sicher nicht lange dauern. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Hamburger Perlhuhn ernsthaft Willis Haus mieten wollte, erst recht nicht Kneipe und Pool. Aber es ging nur alles für einen Preis, das hatte sich Beate vorgenommen und auch in die Immobilien-Anzeigen geschrieben, die sie jetzt schon seit ein paar Wochen laufen ließ. Xenia war die einzige, die nach Mail und Telefonat noch am Ball geblieben war. Sie hatte am Telefon gleich „Beate“ zu ihr gesagt, ohne ihr aber das Du anzubieten. Beate machte es einfach genauso, obwohl es ihr schwerfiel, den Namen „Xenia“ ohne Ironie auszusprechen.


„Hallo, Beate“, sagte Xenia, schaltete das Licht in ihren blauen Augen an und streckte ihr die Hand entgegen. An ihrem Ringfinger baumelte ein Goldring mit Glitzerstein, viel zu weit, als wollte er gleich verloren gehen. Nur das breite Fingergelenk hielt ihn zurück. Beate griff zu. Xenias Hand war warm und sehnig, keine, die sich schnell wieder verzog. Ihre Mundwinkel hoben sich, doch ihre Freundlichkeit sah durch sie hindurch, das fühlte Beate.


Die Tulpenvase auf Willis Flurkommode, die Beate nach seiner Beerdigung ein paar Mal frisch bestückt hatte, sah morbide aus. Die Tulpen waren halb nackt und zeigten ihre Staubfäden, sie hatten Blätter um sich herum abgeworfen, die nun gelb, orange und rot auf den braunen Flurfliesen lagen. „Oh!“, sagte Xenia, „Das sieht ja so aus, als hätte jemand Blumen gestreut. Wie bei einer Hochzeit.“ Beate schnaufte. „Ich denke da gerade eher an eine Beerdigung.“ Sie wich in den Türrahmen der Küche aus und zeigte mit dem Arm Richtung Wohnzimmer. „Sie können durchgehen, wenn Sie wollen“. Xenia nickte langhalsig, strich eine blonde Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das Ohr und stakste an Beate vorbei.


„Entschuldigung. Für Sie ist das sicher nicht einfach“, sagte Xenia, ohne sie anzusehen. Beate blieb im Türrahmen stehen. Alles im Rahmen, dachte sie und wusste gar nicht, wie sie sich fühlte. Sie musste halt machen.

„Darf ich die Terrassentür öffnen?“, hörte sie Xenia fragen.

„Ja, schauen Sie sich um. Ich hole mir kurz ein Glas Wasser … Ähm, wollen Sie auch eins?“

„Ja, gerne. Danke“.

Sie hörte, wie die Terrassentür aufschnappte. Beate ließ sich Zeit. Sie wollte lieber in der Küche bleiben und nicht dabei zuschauen, wie Xenia mit ihren langen Beinen Willis Garten einnahm.


Beate stellte ein volles Glas Wasser auf den Schreibtisch neben der Terrassentür. Sie sah Xenia im Garten stehen, direkt unter dem mächtigen Apfelbaum. Dann lehnte sie sich mit der Schulter an den Stamm. Rosa Bluse an Rinde, dachte Beate und grinste. Da drehte sich Xenia zu ihr um. „Schöner Apfelbaum. Der hält den ganzen Garten zusammen“, sagte sie.

„Hm, so kann man das auch sagen. Und der bringt viel Apfelsaft, Apfelmus und Apfelmarmelade … Willi hat sogar Apfelschnaps daraus gemacht“, rief Beate in den Garten. „Kommen Sie wieder rein? Ich zeige Ihnen die anderen Zimmer und die Kneipe“, sagte sie und hielt Xenia das Wasserglas hin. Die nahm es, nippte erst, trank es dann zügig aus und sah Beate dabei an, als erwarte sie etwas von ihr.

„War er eigentlich verheiratet?“, fragte Xenia, als sie am Ende der Besichtigung schließlich in Willis Schlafzimmer standen.

„Ja, aber seine Frau ist schon einige Jahre tot“, antwortete Beate, „wieso fragen Sie das?“

„Ich finde, dieses Schlafzimmer sieht verheiratet aus“, sagte Xenia.

Beate wusste, was sie meinte. Das Schlafzimmer hatte ein gewisses Schwergewicht, das nicht zum Rest des Hauses passte. Ein wuchtiges Holzbett mit gepolstertem Kopf- und Fußteil dominierte, ein massiver Rahmen für den Ehesex. Rechts und links daneben der gleiche staksige Nachttisch mit possierlicher Leselampe, ein möblierter Gleichklang.


„Darf ich mal reinschauen?“, fragte Xenia und zeigte auf den großen Einbauschrank, der eine Seite des Schlafzimmers ausfüllte.

„Okay, ja, warum nicht.“

Xenia öffnete den Schrank, in dem Willis weiße Hemden hingen, leuchtend und glatt. Die hatten ihm im Sommer besonders gut zu seiner braunen Haut gestanden. Beate spürte ihren Bauch, einen Hohlraum, der sich darin breiter machte, während sie Willi vor sich sah.

„Ich habe noch nichts ausgeräumt“, flüsterte Beate.


Xenia öffnete alle Schranktüren von Willis gepflegtem Leben. Seine Taucherbrille baumelte ihnen von einem Extrahaken in der Schranktür entgegen. Hinter den letzten beiden Türen waren alle Fächer leer. Xenia schaute sie fragend an.

„Ich weiß nicht, vielleicht war das Magrets Seite? Oder vielleicht hat er sie für seine Freundinnen freigehalten…“, Beates Stimme bröselte.

„Ich nehme sie“, sagte Xenia.

„Was?“, Beate drückte eine Hand auf ihren Bauch.

„Die freien Fächer“, sagte sie und strich über eines der leeren Schrankbretter.

„Also, heißt das, Sie wollen das Haus mieten? Auch mit Kneipe und Pool?“

„Ja. Ich würde hier gerne einziehen. Am liebsten so schnell wie möglich.“

„Oh, okay. Gut. Ich brauche aber bestimmt eine, ne, eher zwei Wochen, um das Haus leer zu räumen. Ich hab ja noch nicht mal Willis Sachen aus den Schränken geräumt.“

„Das müssen Sie nicht. Ich nehme das Haus gerne mit allen Möbeln. Und auch, ich meine, mit allen Sachen“, sagte Xenia und nestelte an ihrem Glitzerring herum.

„Alle? Ah, so. Ja, aber die Schränke und Schubladen. Willis Kleidung und die ganzen persönlichen Dinge. Die räume ich natürlich aus“, sagte Beate.

„Ich nehme alles, wie es ist. Sie brauchen sich wirklich keine Mühe zu machen“, sagte Xenia und ihre Augen weiteten sich in trüber werdendes Blau.

Ein Ruck fuhr durch Beates Bauch. Was ist das denn für eine? Will die mit ihren rosa Blusen zwischen Willis weißen Hemden einziehen? Und ihre BHs zu seinen Boxershorts in die Schublade legen?

Beate sah Xenia frontal an. Eine Endvierzigerin wie eine frisch getünchte Jugendstilvilla. „Was wollen Sie eigentlich hier?“, fragte sie mit aufsteigender Abscheu. „Sie passen doch gar nicht hierher!“


Xenia schob eine Falte in ihre hohe Stirn. „Wissen Sie“, sagte sie und sah Beate mit flatternden Lidern an, „ich komme eigentlich vom Dorf. Ich bin hier in der Nordheide aufgewachsen … Aber nun … Mein Mann hat einen Fehler gemacht. Und ich brauche jetzt ein anderes Haus … ein anderes Leben, das ich einfach weiterleben kann. Das hier. Das Haus … Willi, das fühlt sich richtig an. Verstehen Sie?“

„Verstehen? Brauche ich nicht. Ja, von mir aus … Aber ich will nicht, dass Sie Willi an die Wäsche gehen! Und Sie müssen einen Zapfhahn bedienen können und im Sommer den pH-Wert im Pool messen. Sonst passen Sie hier im Dorf nicht zwischen Schwarz und Weiß. Kapieren Sie das?“, kollerte Beate und packte dabei in das gepolsterte Fußende des Bettes.


Xenia stand ungerührt da. Dann blickte sie herab zu Beates Durchschnittsgröße und sah sie dringlich an. „Ich bin gut darin, Dinge richtig zu machen“, sagte sie und stelzte Wort an Wort, „Ich bleibe im Rahmen. Ich male nicht über, mache alles fertig. Ein Mandala sieht bei mir wie gedruckt aus. Auch eine Kneipe, ein Pool… oder ein Apfelbaum … Im Oktober wird es Apfelschnaps geben. Ja?“


Beate kniff die Augen zusammen. Sie versuchte das Bild scharf zu stellen: Perlhuhn hinter Dorftheke. Willi hätte da nicht nein gesagt. „Gut, ist abgemacht“, sagte sie und ihre Mundecke schob sich nach oben.


Bildnachweis: lama-photography / photocase.de


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