Kurt war der Einzige aus unserer Klasse, der mit einem Koffer zum Unterricht kam. Der Koffer wirkte zu groß für ihn und für das, was er in der Schule vorhatte.
Kurt war der Einzige aus unserer Klasse, der mit einem Koffer zum Unterricht kam. Der Koffer wirkte zu groß für ihn und für das, was er in der Schule vorhatte. Wir waren ja noch klein, gerade mal in der fünften Klasse. Kurts Koffer war einer von der Sorte, mit denen unsere Großeltern früher in den Urlaub gefahren waren. Aus braunem Leder mit Metallbeschlägen an den Ecken, einem dünnen Ledergriff zum Tragen, der wackelte und leise quietschte, wenn Kurt ihn hastig an sich zog.
Wie der Koffer nicht zu einem Fünftklässler passte, so passte Kurt nicht in die 80er. Nicht sein Name, auch nicht seine weißen, zugeknöpften Hemden, die eine Kragenweite zu groß waren. Betragen – das passte zu Kurt. Er betrug sich. Als einziger von uns. Das lag vielleicht daran, dass er bei seinen Großeltern aufwuchs. Er erledigte kerzengerade, was die Lehrer ihm auftrugen. Er war streng mit sich, aber nicht mit anderen. Seine Augen waren warm wie Maronen. Gerne wäre ich mit ihm nach der Schule ein Stück zusammen gegangen und hätte seinen Koffer getragen. Aber dazu fehlte mir der Mut. Kurt schien mir unnahbar.
Manchmal beunruhigte mich sein Koffer. Als hätte er den schmalen Kurt davontragen und mit ihm verschwinden können. An einem Montagmorgen kam ich in die Klasse und Kurts Koffer lag auf meinem Tisch. Als ich ihn zögerlich aufklappte, lag ein kleiner Zettel darin, in Kurts gerader, sparsamer Handschrift stand darauf: Liebe Anja, Du kannst ihn jetzt tragen. Dein Kurt.
Bildnachweis: Karlsbart / photocase.de
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