Christian Schmidt nennt sich »Granola Aktivist«. In seiner sozialen Müslirösterei HEYHO gibt er Menschen eine Arbeit, die sonst keiner anstellt. Er will zeigen: Ein integratives Unternehmen kann Gewinne machen und eine Geschichte erzählen, die das Leben besser macht.
Haferflocken rieseln aus einem großen Sack in die Edelstahlwanne. Dann nimmt eine Mitarbeiterin den Eimer mit dem Agavensirup und lässt diesen zwischen die Flocken rinnen. Sie greift mit beiden Händen in die Wanne und vermischt mit kräftigen Bewegungen die Zutaten fürs »Golden Chai Chai Granola«, dabei färben sich ihre Gummihandschuhe und die Haferflocken gelb von dem Kurkuma-Gewürz. Vom Ofen her duftet es nach Zimt, Kardamom und Nelken. »Eine Röstung ist gleich fertig. Dann spielt der Ofen Hey! Ho! Let´s Go!«, ruft Christian Schmidt durch die Produktionshalle und tippt auf das aufleuchtende Ofendisplay. »Das ist der Song der Punkband Ramones, der uns zum Namen HEYHO inspiriert hat.«
»HEYHO« heißt die soziale Müslirösterei, die Christian Schmidt 2016 zusammen mit Timm Duffner und Stefan Buchholz im norddeutschen Lüneburg gründete. Das Ziel: Menschen eine Arbeit geben, die sonst keiner anstellt. Das Müslimachen ist für die drei Gründer dabei nur Mittel zum Zweck. »Bei HEYHO stellen wir keine Menschen an, um Granola zu rösten, wir rösten Granola, um Menschen einzustellen«, erklärt Schmidt. Denn Müsli lässt sich recht einfach und gleichzeitig hochwertig von Menschen herstellen, die nicht qualifiziert sind.
Ihre ersten Granola-Sorten mischten, würzten und probierten die Gründer noch in der privaten Küche. Seit 2019 rösten sie ihre sechs Müslisorten mit 30 MitarbeiterInnen in ihrer angemieteten Lüneburger Produktionshalle. Jeder Schritt geschieht dabei in Handarbeit – vom Mischen, Rösten, Abwiegen und Befüllen der Müsligläser bis zum Bekleben der Deckel.
Die Hände von Romano Lai schneiden gerade Schokolade. In jeder Hand einen Griff wiegt er das Messer hin und her über das Brett, bis die faire Zartbitterschokolade in kleine Brocken für das »Late Night Breakfast Granola« zerfällt. Das Müsli füllt seine Kollegin neben ihm in Gläser ab und legt schokolierte Salzbrezeln sorgsam hinein. Lais Hände hatten lange nichts zu tun, bis er vor zwei Jahren das Angebot bekam, für HEYHO zu arbeiten. Da war er aus der Haft entlassen, hatte den Absprung von der Straße in eine kleine Wohnung geschafft, aber keinen Job: »Ich habe mich damals vielfach beworben, aber wegen meiner Vergangenheit und meiner Suchtkrankheit nur Absagen bekommen. HEYHO hat mir die Chance gegeben. Die haben gesagt: Was war, das war. Aber was jetzt ist, das zählt. Seit zwei Jahren bin ich hier, bin stabil und es läuft und ich will die nächsten fünfzehn Jahre hierbleiben. Das Vertrauen, das man bekommt, gibt man ja zurück.«
Vertrauen schenken – auch als Vorschuss in Form von unbefristeten Verträgen – darin investiert HEYHO. »Vertrauen ist das A und O, damit es hier funktioniert«, sagt Christian Schmidt. Dieses Vertrauen ist Teil ihres unternehmerischen Risikos. Die Müslirösterei arbeitet als GmbH wie jeder andere Betrieb gewinnorientiert ohne Zuschüsse oder Fördergelder. Denn Schmidt und seine Mitstreiter wollen zeigen: Ein soziales Unternehmen, das Teilhabe ermöglicht, kann wirtschaftlich erfolgreich sein und solide wachsen. Die drei Gründer treibt dabei »der radikale Glaube an das Gute im Menschen« an, erzählt der 35-Jährige und lächelt in seinen Vollbart. »Am Anfang haben wir des Öfteren gehört: Ihr seid wahnsinnig. Das wird niemals funktionieren.« Deshalb tanzt das Wort Wahnsinn durch die Wandillustration über seinem Schreibtisch.
Über ihren »naiven Glauben an das Gute im Menschen« haben die drei Gründer sich gefunden: Schmidt traf Timm Duffner 2012 als er nach seinem Studium gerade bei der nachhaltig ausgerichteten Eismarke Ben & Jerry`s ein Praktikum machte. Gemeinsam dachten sie über die Frage nach: Wie wäre es, wenn man auf einem Lebensmittel eine echte Geschichte erzählen könnte, die das Leben von Menschen wirklich besser macht? Eine Idee, die sich rumspricht und andere inspiriert?
Dann lernten sie 2015 Stefan Buchholz kennen, der damals eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe in Lüneburg leitete. Er erzählte ihnen von den Menschen dort, deren Potentiale brachlagen, weil ihnen keiner einen Arbeitsplatz gab. Das war der Anstoß für HEYHO.
In dem Kompetenz-Mix der drei Gründerpersönlichkeiten liegt das Erfolgsrezept für das sanft, aber stetig wachsende soziale Unternehmen: Der 45-jährige Timm Duffner hat Karriere bei internationalen Lebensmittelproduzenten gemacht. Er hat die Eismarke Ben & Jerry`s in Deutschland aufgebaut. Christian Schmidt bringt aus seiner Arbeit in der Werbebranche das Know-how für das markante Marketing mit. Stefan Buchholz, mit Mitte 50 der Älteste im Trio, kennt sich mit Menschen aus, die eine bewegte Biografie haben mit Drogensucht, Kriminalität und Wohnungslosigkeit. Er warb ihre ersten Mitarbeiter Romano und Patrick an, die beide inzwischen seit über zwei Jahren für die Müslirösterei arbeiten. »Stefan ist die Kontaktperson zu den Menschen im Team, die manchmal mit Widerständen zu kämpfen haben oder Probleme haben, hier im Team anzukommen. Denn der Wechsel von ihrem Leben davor zur Arbeit bei uns bedarf schon einer besonderen Begleitung. Stefan weiß, welche Schwierigkeiten dieser Lebenswechsel mit sich bringt und kann sie dabei unterstützen.«
Soziales Engagement war nicht immer Schmidts Thema. Popkultur interessierte ihn mehr. Nach dem Abi versuchte er um den Zivildienst herumzukommen, um schneller studieren zu können. Aber dann entschied er sich doch für das Freiwillige Soziale Jahr: »Dort war ich mit Menschen zusammen, die nicht jung waren und denen es meist nicht gut ging. Diese Zeit war prägend für mich, weil ich gemerkt habe, dass ich aus diesen Begegnungen Kraft ziehe. Da sind mir zum ersten Mal die sozialen Themen ans Herz gewachsen.«
Aus einem »diffusen Karrierewillen« heraus, fing er danach ein Jurastudium an und »brach es erfolgreich ab«, wie er sagt. Dann studierte er Medienmanagement & Kommunikation in Liverpool und Iserlohn, probierte sich unruhig und suchend in Praktika aus, arbeite knapp drei Jahre für Werbeagenturen. Schließlich setzte er alles auf HEYHO: »Obwohl das ein Wahnsinnsprojekt ist, das wir hier gestartet haben, bin ich ruhiger geworden. Auch wenn unser Unternehmen noch richtig viel Arbeit bedeutet, um es weiter auf gute Füße zu stellen, habe ich eine positive Ruhe, weil hier in der Rösterei Begegnungen stattfinden, aus denen ich Kraft ziehe.«
Gute Begegnungen, eigenverantwortliches Arbeiten und das sichere Gefühl dazuzugehören, sollen seine MitarbeiterInnen in der Rösterei erleben. Alle Festangestellten – sechs von ihnen mit besonderer Biografie – werden weit über Mindestlohn bezahlt, haben unbefristete Verträge und nur eine Viertage-Woche, damit genug Zeit für Erholung, Freizeit und Familie bleibt. Alle Mitarbeitenden entscheiden selbst, ob sie ihre Arbeitszeit auf vier oder auf fünf Tage verteilen. Romano Lai erzählt: »Im Moment arbeite ich sechs Stunden an fünf Tagen. Wir arbeiten hier in der Produktion sehr selbstverantwortlich. Das meiste sprechen wir zusammen ab. Das muss man hier lernen. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich richtig drinnen war. Aber deshalb brauchen wir keinen Chef, der uns andauernd auf die Finger guckt. Und wenn man persönliche Probleme hat, kann man immer mit Stefan reden.«
Milad, der eben noch spaßend mit Romano am Produktionstisch stand und aus Angst vor der iranischen Regierung nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, schnippelt am großen Esstisch im Gemeinschaftraum Gemüse für die Pizza, die alle in der Mittagspause zusammen essen werden. »Ich koche jeden Tag für alle, weil mir das Spaß macht. Wir sind hier kunterbunte Leute. Wir können auch laute Musik anmachen und lustig sein. Wir unterhalten uns gerne und verstehen uns gut. Das finde ich sehr schön«, erzählt er mit seinem weiten Lächeln.
»Das gemeinsame Mittagessen ist ein Ritual, das uns allen guttut«, sagt Schmidt. »Was menschlich richtig ist, wird sich auch ökonomisch auszahlen. Daran glauben wir hier alle«. Ihre Granolas haben es trotz des Preises von 6,99 Euro pro 300-Gramm-Glas in die Regale großer Lebensmittelmärkte geschafft. Das markante Design, Geschmack und Qualität kommen an, auch weil nur hochwertige Bio-Produkte verarbeitet werden: »Unsere Produkte müssen so gut sein, dass man bereit ist, dafür diesen Preis zu zahlen. Dies ist ein echter Preis, der uns ermöglicht von Anfang an einen soliden Betrieb auf die Beine zu stellen, unsere Mitarbeiter fair zu bezahlen und gute Rohstoffe zu verarbeiten. Wir streben immer nach langfristigen Partnerschaften, nicht nur Regalpartnerschaften. Wir suchen Händler, die unsere soziale Idee mittragen, vervielfältigen und als Unternehmen selbst integrativer werden wollen.«
HEYHO will ein Beispiel sein für Teilhabe. Aber nicht jeder Tag in der Müslirösterei ist ‚Hey ho‘: »Ein Mitarbeiter hatte eine starke Downphase und wir haben uns große Sorgen gemacht. Plötzlich ist er wieder zur Arbeit gekommen und war erst sehr zurückhaltend. Weil er dachte, er hätte Vertrauen verspielt. Wir haben gesagt: Komm, lass uns einfach weitermachen! Dann ist der Mitarbeiter aufgeblüht und wieder zu Kräften gekommen. Das war ein Highlight für uns.«
Dafür pendelt Schmidt jeden Tag von Hannover nach Lüneburg, wo er seit seiner Grundschulzeit aufgewachsen ist und jetzt frisch verheiratet mit seiner Frau lebt. In ihrer Wohnung wirft er im Winter gerne Holz in den alten Kachelofen und macht Feuer. In seiner Müslirösterei zündelt er mit Ideen, die im Ofen rösten, würzigen Duft verbreiten und Geschichten schreiben sollen. »Die Geschichten unserer MitarbeiterInnen sind da. Sie sind bei uns. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit bei vielen von uns und da schließe ich mich ein. Das lohnt sich! Der Grund unseres Unternehmens ist, das Romano, Patrick und der Rest des Teams hier sind und eine Sicherheit haben.« Erschienen in: gomagazin, Ausgabe 21 in 2021
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