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Das Holzbein

Anne Albers

Sein Holzbein stand im Flur neben den Regenschirmen. Wenn wir sonntags zum Mittagessen kamen, saß Opa meist auf der Eckbank in der Küche und löste Kreuzworträtsel, während Oma ihm gegenüber Kartoffeln schälte.

Sein Holzbein stand im Flur neben den Regenschirmen. Wenn wir sonntags zum Mittagessen kamen, saß Opa meist auf der Eckbank in der Küche und löste Kreuzworträtsel, während Oma ihm gegenüber Kartoffeln schälte. Sie trug ihre geblümte Kittelschürze über ihrem Sonntagskleid, die immer etwas zu groß wirkte über ihren mädchenhaft dünnen Beinen. In gleichmäßigen Ringeln schälte sie die Kartoffeln ab, die auf das Zeitungspapier auf dem Küchentisch fielen. Die Kartoffeln zerteilte sie in einer Hand und ließ sie in den Kochtopf plumpsen.


Opas rechtes Bein endete mit der Kante der Sitzbank. Das überflüssige Bein seiner grauen Bundfaltenhose hatte er um den Stumpf geschlagen und unter den Oberschenkel geklemmt. Das machte er meist nur zuhause. Auswärts trug er sein Holzbein, das er beim Sitzen vor sich lang ablegen musste.


Wo sein Knie und sein Unterschenkel geblieben sind, fragte ich ihn nicht. „In Frankreich hat er sie verloren“, erzählte mir mein Vater. „Aber dafür behielt Opa sein Leben.“

Herzehans, wie meine Oma ihn nannte, durfte nach Hause und lebte auf einem Bein weiter. Nach dem Krieg fuhr er einbeinig Fahrrad und Autos mit Handkupplung, arbeitete auf dem Amt, hielt sein Leben in Ordnung, behütete die Kirchenfinanzen und spendete mehr als er für sich selbst ausgab. Zu Weihnachten schenkten wir ihm gestreifte Oberhemden und V-Pullover, wenn auch die Lederflicken an den Ellenbogen seine alten Pullover nicht mehr zusammenhielten.


Auch am Hals mussten sie Opa flicken. Rechts unter dem Kinn sah es aus als hätten sie seine Haut kugelrund nach innen gezogen, von da aus lief eine starke Linie den Hals hinab, nein, das sah eher aus wie ein Tal zwischen zwei Hautfalten. – Da fehlte nicht viel, oder, Opa?


Opa redete nicht viel, meist sah er uns durch seine Kassenbrille aufmerksam an. Aus freundlichen, blassblauen Augen, die manchmal spitzbübisch aufblitzten. Das gefiel wohl meiner Oma, die nicht ganz von dieser Welt war. Für die Verwaltung hatte sie ihren Herzehans. Sie bestaunte lieber Blumen, päppelte kranke Vögel auf, las ihn ihrer durchpflügten Bibel und steckte mir mit sanfter Hand fünf Mark zu, wenn Opa nicht guckte. Dann stieg sie im Schlafzimmer auf den kippeligen Tritt, angelte oben vom Kleiderschrank Katzenzungen und Schokolinsen, die sie dort für meine Schwester und mich lagerte.


Als mein Opa mit 98 Jahren eingeschlafen war, brannte rechts und links eine Kerze neben ihm. Seine Hände lagen gefaltet auf seinem Bauch. Ein weißes Tuch bedeckte ihn von seinen Füßen bis zum Hemdansatz. Ob sie ihm das Hosenbein unter den Stumpf gefaltet hatten?


Mein Vater legte ihm die Hand aufs Herz und immer wieder auf die Brust, bis er sich sicher war. Mir fiel es schwer, vom Kellerflur des Altenheims in den Abschiedsraum zu treten. Denn mein Opa war schon weg, das spürte ich. Aber sein Körper lag noch da. Das war merkwürdig genug.


In den Sachen meines Opas fanden wir eine Schatulle mit Orden. Auch einen mit Hakenkreuz. Mein Opa hatte sein Bein nicht „für den Führer“ verloren, da war ich mir sicher. Gesprochen hätte ich trotzdem gerne mit ihm darüber. Aber das ging nicht bei dem süßen Pfirsichsaft, den meine Oma mir sonntags zu den Kartoffeln und den Rouladen in brauner Soße eingoss.


Bildnachweis: Bildbürger / photocase.de


 
 

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