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  • Anne Albers

Bei Smilla ist Nacht

Das Chalet duckt sich hinter die letzte Serpentine. Das schneebeladene Dach sitzt gedrungen auf den dunklen Holzwänden. Das Haus zieht die Schultern hoch. Ihm ist kalt. Smilla fixiert das Giebelfenster, dessen Holzränder im Dämmerlicht ausfasern.



Das Chalet duckt sich hinter die letzte Serpentine. Das schneebeladene Dach sitzt gedrungen auf den dunklen Holzwänden. Das Haus zieht die Schultern hoch. Ihm ist kalt. Smilla fixiert das Giebelfenster, dessen Holzränder im Dämmerlicht ausfasern. Sie bleibt stehen, stützt sich auf ihren Knien ab und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Sie fühlt ihren schweißnassen Rücken unter dem Rucksack. Vor ihr, auf den letzten Metern zum Chalet, hat sich pudriger Schnee drapiert. Sicher knietief. Hier war in den letzten Stunden niemand, der eine Spur vorgetreten hätte. Hinter ihr keucht es. Emira, überragt von ihrem roten Rucksack. Ihr Gesicht ist bleich, schwarze Strähnen kleben an ihren Schläfen.


„Du siehst ja fertig aus! Willst du einen Traubenzucker?“

„Ne, lass mal. Die letzten Meter schaffe ich auch so. Ich will beim Chalet sein, bevor es dunkel ist.“


Sie hieven sich durch den Tiefschnee, das letzte Stück steil querfeldein, direkt bis auf die Terrasse, wo der Schneesaum unter dem Vordach endet. Neben ihnen zirpt es. Der Wind zupft am Fahnenmastseil, die Stofftentakeln wehen müde auf Halbmast.


„Die müssen wir morgen früh richtig hissen“, sagt Emira und legt ihre Hand aufs Herz.

Smilla lacht. „Komm, der Schlüssel soll auf der Fensterbank neben der Tür unter einem Stein liegen.“


Auf den groben Steinplatten vor der Eingangstür stapfen sie sich den Schnee von den Stiefeln, der in Placken liegen bleibt. Smilla rumst die Tür beim Aufschließen mit der Schulter auf. Die Vermieterin hatte schon gesagt, dass man da nachhelfen muss. Der schmale Flur neigt sich ihnen mit schweren Holzbalken entgegen. An der Wand ist ein Drehschalter. Strom soll es hier geben und fließend warmes Wasser. Auf Survival-Urlaub in den Weihnachtsferien haben Emira und sie nämlich keine Lust. Das Flurlicht funzelt auf und bescheint ein Wählscheibentelefon an der Wand, daneben ein handgeschriebener Zettel, der mit Reißzwecken ans Holz gepikst ist. „Hausregeln“ steht ganz oben, mit dem Lineal unterstrichen.


Sie setzen ihre Rücksäcke rücklings auf der Sitzbank unter dem Telefon ab und binden die Schnürsenkel ihrer Stiefel mit kaltsteifen Fingern auf.


Emira drängt an ihr vorbei ins Wohnzimmer.

„Puh, hier riecht es nach kaltem Rauch.“

„Ja, das kommt bestimmt von dem Holzofen. Der heizt das Haus.“

Rums. „Aua!“

„Was ist denn?“

„So ein scheiß Holzbalken. Hab mir den Kopf gestoßen.“

„Bleib mal stehen. Ich mache mehr Licht.“


Eine Pendelleuchte geht an und wirft ihren Lichtkegel auf den Esstisch. Rustikal mit Eckbank. Das muss wohl sein. Ein rotes Sofa steht klumpfüßig an der Wand. Smilla lässt sich darauf fallen und Emira plumpst neben sie. Sie legen ihre schweren Waden auf den Couchtisch, in den alte Rotweinränder eingezogen sind, schauen ihre bunt geringelten Füße an, wackeln mit den Zehen und lachen. Selbstgestrickte Socken von Smillas Mutter … Sie kann es nicht lassen!


Das Panorama-Fenster vor ihnen zeigt nichts als Dunkelheit. Unterschiedsloses Dunkel. Dunkelheit ohne Verlauf. Der Himmel hat schwarzen Molton vor die Fenster gehängt. Das ist eine Finsternis, die es in der Stadt nicht gibt. Das ist Nacht, denkt Smilla.


„Wie gut, dass wir es noch in der Dämmerung hergeschafft haben. Sonst wären wir wohl lost gewesen!“, sagt Emira.

„Lost? Du redest schon wie die Teenager bei mir in der Therapie!“, frotzelt Smilla.

„Ne, das ist bei uns Agentursprech. Also, eher spätpubertär“.


Smilla lacht, dann geht ein Schauer über ihren Rücken. Sie fröstelt. Jetzt, da die Hitze des Aufstieges in ihr abklingt, bemerkt sie die Kälte, die durch die Ritzen zu ihnen hineinschleicht. Das durchgeschwitzte Shirt klebt kalt an ihr. „Komm“, sagt sie zu Emira, „wir machen Feuer.“ In der Küche liegen neben dem Ofen Holzscheite und alte Zeitungen brav übereinander. Ein Stabfeuerzeug hängt am Nagel an der Wand.


„Gosh, hab ich einen Durst“, sagt Emira und dreht den Wasserhahn über der Spüle auf. Der hustet und spuckt. „Das Wasser ist braun … eklig!“

„Lass es einfach ein bisschen laufen, dann wird es klar. Das ist nur das Wasser, das zu lange in der Leitung stand.“


Smilla knüllt ein paar Seiten „Bündner Tagblatt“ zusammen, wirft sie brennend zu den Scheiten in den Ofen und legt den Haken um, damit sich der Abzug öffnet. Der Ofen zieht die Flammen gierig in sich hinein.


„Ich gehe mal nach oben ins Bad“, sagt Smilla.

„Ah, jetzt wird das Wasser endlich klar. Okay, ich mache Teewasser heiß.“


Smilla geht die steile Holztreppe nach oben. Sie mag das Geräusch von Holz, das ihren Schritten ausweicht. Sie lauscht. Hier oben ist es ganz still. Das Haus hält den Atem an.

Die Tür da hinten mit dem pickligen Glas in den oberen Kassetten ist bestimmt das Bad, denkt sie. Sie geht den Flur an zwei Zimmertüren mit groben Riegelschlössern vorbei. Wie Stalltüren… Was ist das? Diese Tür sieht ja seltsam aus! Ist die gepolstert? Smilla drückt ihre flache Hand gegen den schwarzen Stoff. Klammer Samt. Nieten wülsten ihn an symmetrisch angeordneten Punkten zusammen. Der schnörkelige Messinggriff wirkt deplatziert.


Sie drückt ihn runter, öffnet die Tür. Zwei Matratzen mit ergrauten Bezügen liegen in der Ecke auf dem Boden, dicht aneinander gedrängt. Daneben steht eine bauchige Nachttischlampe, deren Kabel sich über den Holzboden bis zur Steckdose an der anderen Wand schlängelt. Ansonsten ist das Zimmer leer. Smilla geht in die Zimmermitte, dreht sich, sucht. Sie weiß gar nicht, was. Doch, vielleicht nach etwas, das den Raum füllt. Die Leere fühlt sich nicht gut an. Die Matratzen suchen darin Zuflucht beieinander und finden sie nicht.


Smilla geht zum tiefen, gekreuzten Fenster. Auch von hier oben kann sie nicht das Tal sehen. Nur lichterloses Schwarz. Über dem Fenster entdeckt sie eine Nische, eine Vertiefung in der Wand. Darin steht etwas … eine Holzfigur? Smilla könnte sie mit einer Hand fassen. Das ist bestimmt die Hausheilige. Eine, die bewahrt vor Lawinen, den Dämonen der Nacht oder zumindest vor Hals- und Beinbruch. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, will die Figur ansehen, aber die hat keine Augen. Nur zwei Löcher, die in einen ungeschliffenen Holzkopf gebrannt sind. Sein Mund steht offen wie zum Schrei. Ein tiefer, holzkohleverschmierter Schlund. Man will ihn stopfen! Der Kopf sitzt auf einem dürren Stockhals, der in den Oberleib gehämmert wurde, dass sich Risse von oben nach unten durch den Korpus ziehen. Rücken und Bauch sind meißelgrob. Die Holzhäcksel-Beine können ihn kaum tragen.


Smilla blinzelt, lässt sich auf die Fersen sinken, stellt sich wieder auf die Zehenspitzen und hält sich dabei am Fenstergriff fest. Sie starrt die Figur an. Was bist du? Woodoo? Kunsttherapie? Die Figur schaut hohläugig zurück und schreit. Wieso schreist du? Warum stehst du hier? Du bist nicht Maria, nicht Jesus. Du glaubst nicht mal an Gott, oder? Also, wieso wachst du über diesen Raum?


Sie tippt der Figur mit dem Zeigefinger gegen den Bauch. Sie soll Antwort geben, aber die Figur lässt sich nichts befehlen. Smilla ist wütend auf die hölzerne Missgestalt. Sie behagt ihr nicht. Ein Einmachglas mit einer unappetitlichen Reliquie wäre ihr lieber. Oder eine streng auf sie herabsehende Ikone. Aber diese Figur bedeutet nichts. Sie ist nur grobes, gesplittertes, gemeißeltes Gefühl. Das Gefühl bewohnt diesen leeren Raum und nächtigt auf den Matratzen.


„Pfiiiiiiiii!“ Smilla zuckt zusammen … Ach, der Teekessel! Sie streicht sich mit der Hand übers Gesicht, das sich unter ihrer Berührung entspannt. – Ich wollte ins Bad. Das nasse T-Shirt ausziehen, meine Hände unter dem Wasserstrahl wärmen. Sie dreht sich um, geht hastig aus dem Zimmer.


Später sitzen Emira und sie müdestill unten auf dem Sofa, eingepuppt in ihre Schlafsäcke, und wärmen ihre Hände an den Kräuterteebechern. Heißes Wasser gab es im Bad nicht. Smilla hat erst mal den Boiler angeschaltet, aber dem guten Stück müssen sie Zeit lassen. Auch das Chalet braucht noch, bis es die Wärme annimmt, die der Holzofen ausstrahlt.


Gemütlich, Smilla mag das Wort eigentlich nicht, aber ja, gerade ist es gemütlich. Würden noch Schnäpse und Wurstbrote vor ihnen auf dem Tisch stehen, wäre es urig. Hm, ein Salamibrot könnte vielleicht die Stelle in ihrem Bauch füllen, an der dieses komische Gefühl hockt, seit sie die Figur gesehen hat. Unruhig, aufgescheucht … verunsichert? Ich kann auf keinen Fall mit der Figur in einem Raum schlafen. Aber es gibt ja noch zwei andere Schlafzimmer … die habe ich mir noch gar nicht angesehen!


„Komm“, sagt sie zu Emira. „Wir gucken uns die Schlafzimmer oben an.“

„Na, du hast es ja eilig! Ich bin froh, dass gerade der Schmerz in meinen Oberschenkeln nachlässt.“

„Los, Raupe, steh auf!“

„Na, gut“, stöhnt die Freundin und pellt sich aus ihrem Schlafsack.


Sie nehmen das Schlafzimmer ganz rechts. Zusammen. Jede hätte ein eigenes haben können, aber hier ist es gut, beieinander zu sein, findet Smilla. Den Atem der Anderen zu hören beim Einschlafen in der schwarzen Abgeschiedenheit. Außerdem ist das Zimmer einfach das schönste. Die beiden Matratzen liegen erhöht in gemaserten Holzgestellen. Karierte Zierkissen darauf, gar nicht mal muffig. Zwei Nachtschränkchen, Leselampen, Stühle … und in dem alten Bauernschrank gibt es sogar Bügel!


Die Eigentümer können also Schlafzimmer einrichten, denkt Smilla. Merkwürdig, dass das eine Zimmer trotzdem verstörend karg ist. Gut, dass sich Emira den Raum nicht richtig angesehen hat. Das bewahrt sie vor der Figur. Bewahrt? Was für ein lächerlicher Gedanke! Immer diese hysterischen Wellengänge. Smilla kneift sich in die Hand. Das muss die Erschöpfung sein. Und diese Dunkelheit … was habe ich mich früher davor gefürchtet!


Smilla macht den Reißverschluss ihres Schlafsacks auf, als sie endlich im Bett liegt. Ihre Haut prickelt noch von der warmen Dusche und sie fühlt, dass oben im Chalet langsam etwas von der Wärme ankommt. Für die Nacht hat sie noch frische Scheite in den Ofen geworfen. Neben ihr knarzt und raschelt es. Emira dreht sich auf die Seite, schaut sie an und fragt:


„Sag mal, ist deine Mutter nicht sauer, dass du Weihnachten hier oben verbringst?“

„Wieso?“

„Na ja, du hast die letzten Jahre immer mit ihr gefeiert.“

„Stimmt. Aber dafür bin ich ja Neujahr bei ihr. Das wird schon okay sein. Also, eigentlich … weiß ich es nicht. Ich habe sie nicht gefragt. Ich brauche einfach mal was Anderes. Alle Jahre wieder halte ich gerade nicht aus. Und den Großstadt-Nieselregen auch nicht. Freue mich so über den Schnee! Weißt du, was ich morgen als erstes mache? Mich mit einem Kaffee vorne auf die Terrasse setzen und auf die weißen Berge sehen.“

„Hört sich gut an. Bin dabei“, sagt Emira gähnend und dreht sich auf den Rücken. Ihre Lider hängen wie halb heruntergelassene Rollos.


Nicht einschlafen, bitte noch nicht, denkt Smilla. Ich möchte erste sein.

„Emira, das Schlafzimmer vor dem Bad ist merkwürdig, oder?“

„Hm. Was?“

„Na, das Schlafzimmer mit dieser schwarzen Tür.“

„Ja … und?“

„Ich finde das gruselig.“

„Wieso das denn?“

„Weil da nur zwei Matratzen drin liegen. Und dann diese gepolsterte Tür. Das wirkt wie ein Folterraum oder sowas.“

„Ach, komm! Das kann doch tausend harmlose Gründe haben! Vielleicht renovieren die das Zimmer gerade und haben deshalb die Möbel rausgeräumt.“

„Was soll dann diese Tür?“

„Vielleicht erneuern sie die alte gerade.“

„Aber dann schleppt man doch keine Ersatztür hier hoch. Das ist doch viel zu aufwendig.“

„Was weiß ich. Vielleicht schnarcht der Besitzer so laut, dass seine Frau eine Schalldämmtür eingebaut hat.“


Smilla muss lachen, fühlt das Lachen in ihrem Bauch und versucht es dort festzuhalten, wo noch immer das Gefühl hockt und ihr bange Gedanken schickt.

„Du kannst ja morgen die Besitzer anrufen und fragen. Hör jetzt auf zu grübeln! Schlaaafen! Ich bin todmüde“, sagt Emira und zieht sich die Schlafsack-Kapuze über den Kopf.


„Schlaf gut“, flüstert Smilla und hört das Kleinlaute in ihrer Stimme. Sie zieht ihren Fuß in den Schlafsack, den Reißverschluss zu und rollt sich auf ihre Schlafseite, mit der Nase zur Holzwand. Ihr Rücken liegt jetzt frei im Raum, das fühlt sich nicht gut an. Sie dreht sich, bis ihr Po die Wand touchiert. Mit dem Gesicht zur Tür ist es sicherer. Aber sehen kann sie nichts. Die Dunkelheit ist durch das Fenster eingestiegen und hat den Raum eingenommen. Hätte sie doch die Lampe im Flur angelassen! Die würde durch die Ritzen zu ihr hineinscheinen wie eine schmale Hoffnung. Ihr Herz pocht. Und nun merkt sie den Kräutertee. Mann, ich war doch gerade auf Klo! Sie tastet nach ihrem Handy auf dem Nachttisch, tippt auf das Display, das zu hell aufleuchtet. Sie fährt es schnell herunter. Der Schlafsack raschelt, der Boden knarrt, aber Emiras Atem geht ruhig. Smilla schleicht der Türklinke entgegen, geht in den Flur und bleibt dort stehen. Sie sieht in seine langgezogene Schwärze und wird plötzlich starr. ­


Lauf, sagt dann etwas in ihr. Im Dunkeln wohnt das Böse, das kein Gesicht hat und keine Gestalt. Wenn du dich fürchtest, dann erwacht es. Räuchere es aus!


Smilla keucht in die Stille. Atmen, einfach atmen, denkt sie. Nicht weglaufen. Sie spürt wieder den kalten Holzfußboden unter ihren Füßen, geht einen Schritt nach dem anderen, das Handy, in der Hand verkrallt, leuchtet vor ihre Zehen. Das Zimmer scheint sie zu erwarten. Die Tür steht offen, es fällt ihr leicht hineinzugehen. „Komm, Missgestalt“, sagt Smilla leise. Sie streckt sich, fasst die Figur mit einer Hand, die sich wie mürbe gemacht hineinfügt. Sie geht mit ihr die Stiege hinunter, bis in die ofenwarme Küche. Sie legt ihr Handy auf den Tisch, zieht sich den Küchenstuhl ans Ofenloch heran. Macht die Klappe auf, hält einen Holzhäcksel hinein und wartet, bis er aufglimmt. Sie öffnet ihre linke Hand, streicht der Figur über den rauen Kopf und dreht das glühende Holz in ihre rußige Augenhöhle hinein. Sie dreht, bis das Glimmen erlischt. Dann hält sie es wieder ins Feuer und in die andere Augenhöhle hinein. Der Schlund der Figur schreit nicht, denkt sie, er atmet nur breit und schwer wie bei harter Arbeit.

Smilla hat genug. Sie wirft das Holz in den Ofen und wartet, bis die Flammen es ganz umzüngeln. Dann schließt sie die Klappe und geht mit der Missgestalt durch die knarzende Dunkelheit des Chalets, folgt dem Licht der Handy-Taschenlampe und horcht auf ihren maßvollen Puls, bis sie wieder in ihrem Schlafsack liegt. Auf ihrem Nachttisch gähnt der Schlund der müden Missgestalt.


In der Frühsonne glitzert der Schneesaum, als Smilla mit ihrem Kaffee auf die Terrasse geht und sich mit einem Wolldeckenrock auf die Bank setzt. Sie lehnt sich gegen das Chalet und holt die Holzfigur aus ihrer Jackentasche. „Hallo, Urs“, sagt sie und stellt sie neben sich.


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