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  • Anne Albers

Albtraum und Sehnsucht

Zusammenwohnen kann mehr Freiheit und Lebensqualität bedeuten. Aber auch das Gegenteil. Trotzdem lohnt sich das Risiko.



Die Sehnsucht nach dem Wir badet in einer basisdemokratisch verwalteten Wanne. Das „Prunkstück der Gemeinschaft“, las ich letztens über ein Wohnprojekt, sei die einzige Badewanne, die man sich oben auf der Dachterrasse teile. Ich habe dabei ein eher unhygienisches Gefühl, aber vielleicht muss ich meine Grenzen noch erweitern. Ähnliche Gefühle lösen bei mir manche Namen von gemeinschaftlichen Wohnformen aus: „Fluse“ und „Flickenteppich“ zum Beispiel. Bei „Fluse“ sehe ich Alt-Hippies im Stricklook auf durchgesessenen Sofas im Gemeinschaftsraum Ich-Botschaften austauschen. Bei „Flickenteppich“ verweben sich in meinem Kopfkino schräge GenossInnen zu einem bunten Zwangsorganismus, den nur ein mehrstufiges Konsensprinzip zusammenhalten kann …


Das ist ein Albtraum und kein Sehnsuchtsort. Dennoch gibt es immer mehr Fans von Wohnprojekten. Heute sind das meist Häuser, die BewohnerInnen zusammen entwickeln, von einem Bauträger in Beton gießen lassen und dann als Eigentümergemeinschaft oder als Genossenschaft verwalten. Solche Wohnprojekte ziehen in schicke, dauerbelüftete Neubauten, die „Stadtschloss“ oder „Projekt 12“ heißen. Weniger Fluse, mehr Castle und Coolness.


Gemeinschaftliche Wohnformen sind meist keine WGs mehr aus autonomen Hippies oder Ökospießern, die an selbstverwalteten, bröseligen Altbauten herumspachteln. Das war einmal in den 60er- und 70er-Jahren, als kollektive Wohnexperimente Teil von linken Projekten waren. Aktuelle Gemeinschaften sind pragmatischer, sehnen sich nach Hedonismus im Alltag und denken „gemeinsam schaffen wir das“. Sie wollen einander im Alltag helfen und Ressourcen teilen. Nachhaltig möchten sie leben, gerne auch autoarm, mit gemeinsam bepflanztem Hochbeet und E-Lastenfahrrad.


Wohnprojekte sind Wahlfamilien. Je mehr die „herkömmliche“ Familie abgelöst wird, desto wichtiger wird die neue. Junge und Alte, Singles und Alleinerziehende, Familien mit und ohne Patchwork suchen nach Wohnformen, die ihren Lebenssituationen besser entsprechen, als was der Markt ihnen bietet. Mehrgenerationen-Projekte ersetzen die Großfamilie, da Großeltern und Enkelkinder oft nicht mehr am selben Ort wohnen. Christliche und ökumenische Wohnprojekte suchen ihre Schnittmenge zudem in der Spiritualität.


Gerade in Großstädten verbindet sich mit einem Wohnprojekt auch die Hoffnung, als Familie mehr Raum zu haben. Zum Beispiel einen Gemeinschaftsgarten und ein Gästezimmer, das man sich sonst nicht leisten könnte. Dieser Wunsch wird häufig Realität, da immer mehr Städte solche Wohnformen fördern und Grundstücke für sie ausschreiben.


Inzwischen gibt es richtige „Dating“-Portale für Wir-Sehnsüchtige: Zum Beispiel das wohnprojekte-portal.de oder bring-together.de. Damit die Gruppen es nach der ersten Begeisterung auch in das eigene Haus schaffen, werden sie von Stiftungen oder Firmen begleitet, die sich auf diese Szene spezialisiert haben. Äußerst geduldig und mediativ.


Ein Wohnprojekt – wieso eigentlich nicht? Ich habe den Eindruck, dass sie heutzutage weniger Klaustrophobie verursachen. Denn dort spielt sich das Leben zwischen den gemeinsamen Aktivitäten und dem Rückzug in die eigene abgeschlossene Wohnung ab. Man lebt nicht allein, hat trotzdem seine Freiheit und entscheidet, wieviel Kontakt, Nähe oder Freundschaft man will. Damit ist gemeinschaftliches Wohnen verbindlicher als eine gute Nachbarschaft und doch weniger verpflichtend als eine Familie. Nebenbei profitiert man davon, dass alle füreinander da sein wollen: Das Auto leihen, mal Gäste beherbergen oder die Kinder hüten. Den Grill anschmeißen und eine heiße Suppe vorbeibringen. Etwas von der Apotheke oder aus dem Supermarkt mitbringen. Die Waschmaschine anschließen helfen oder den Bohrhammer teilen. Feste feiern und spontan einen Kaffee trinken. Einen guten Rat einholen, füreinander beten und Ideen auf dem Flur austauschen.


Ich kenne kein Gesetz, dass Eingänge und Treppenhäuser toter Raum sein müssen, wo man möglichst niemandem begegnen will. Das Wir lacht und plaudert in Fluren. Menschen in Wohnprojekten haben vieles und wenig gemeinsam, genauso wie Menschen in einem beliebigen Miethaus. Nur dass sie voneinander wissen. Natürlich fordert das gemeinsame Wohnen mehr von allen Einzelnen, aber wenn es funktioniert, kommt mehr dabei heraus: Gemeinsames und Unterschiede, Haben und Können wirken zusammen und vervielfältigen sich – dies auch über das eigene Haus hinaus. Denn viele solcher Gemeinschaften engagieren sich in ihren Quartieren.


Wieso also der Argwohn gegenüber Wohnprojekten? Es bleibt der Risikofaktor Mensch, der in Ballung exponentiell wächst. Ich sehe Gemeinschaften scheitern, weil der Mensch zu viel oder wenig will. Zu empfindlich oder zu unsensibel ist. Den Mund nicht aufmacht oder ihn nicht halten kann. Alles ausdiskutieren muss oder stehen lässt. Zu viel erwartet oder zu viel einbringt. Oder halt zu wenig. Es ist zum Verrücktwerden: Gemeinschaft löst viele Probleme und kann viele machen. Trotzdem scheinen Menschen als Geschöpfe eines dreieinigen Gottes auf Gemeinschaft gepolt zu sein. Deshalb ist es nur natürlich sie zu wagen. – Man kann aber vorher per Haus-Chat anklopfen statt gleich an der Türschwelle zu stehen! Moderne Wohnprojekte sind da evolutionär.


Zum Schluss eine Ich-Botschaft: Ich lebe in einem Wohnprojekt unbeschadet und fröhlich seit sieben Jahren. Dort diskutiere ich auch nicht viel. Wie wir das machen? Betriebsgeheimnis! Jedenfalls empfehle ich diese Lebensform allen Sehnsüchtigen, die entschlossen und enthusiastisch genug für das Wir sind.


Erschienen in: anders handeln, Ausgabe 2.2023


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